Heute möchte ich euch einen Fall vorstellen, dessen Ausgang ein EKG war, das mir von einem sehr guten Freund zugespielt wurde. Es handelt sich um ein weiteres Paradebeispiel, wieso die STEMI-NSTEMI-Nomenklatur sowie der damit einhergehende Fokus auf die ST-Strecke patientengefährdend sind und wieso wir einen neuen Ansatz in der Infarktdiagnostik benötigen. Die genauen Details diesbezüglich findet ihr im Beitrag über OMI-NOMI. Ein rezentes Praxisbeispiel einer weiteren verzögerten Infarktdiagnostik und -therapie findet ihr hier.
Stürzen wir uns in das Fallbeispiel. Ein männlicher Patient (Anfang 40) ruft gegen 16 Uhr den Rettungsdienst, da er seit 13 Uhr in wechselnder Intensität starke (rechtsthorakale) Brustschmerzen (NRS 7/10) verspürt. Die Vitalwerte sind RR 165/110 mmHg, HF 65/min und SpO2 97%. Der Notarzt diagnostiziert eine hypertensive Krise und schickt den Patienten mit dem RTW in die Notaufnahme. Eine Befundung des Notarzt-EKGs ist aus dem Protokoll leider nicht ersichtlich.
Um 16:24 erfolgt in der Notfallambulanz die Anfertigung dieses EKGs, welches mir in der Folge von meinem Freund zugeschickt wurde.
Das EKG zeigt einen normofrequenten Sinusrhythmus (nfr SR) mit HF ~ 60/min, Normaltyp und normalen Zeiten. Bemerkenswert sind jedoch die angedeutete ST-Senkung in I, T-Negativierung in aVL, die hyperakut imponierenden T-Wellen in II, III und aVF sowie – und hier ist ein geschultes Auge notwendig – Q-Zacken-Bildung in V2-V4. Meine Interpretation lautete hochgradiger Verdacht auf OMI, insbesondere da Q-Wellen in V1-V3 (manche Quellen inkludieren auch V4) auf einen aktuellen bzw. abgelaufenen Infarkt hinweisen können (Link). Ich schlug daher serielle EKGs sowie eine engmaschige Überwachung des Patienten mit Vormerkung im Herzkatheter vor. Mein Freund nahm den Patienten an den Monitor, ab dann übernahm ein kardiologischer (!) Kollege.
Wie ging es mit dem Patienten nun weiter? Nach Anfertigung des obigen EKGs wurden routinemäßig Blute sowie eine BGA (soweit bland) abgenommen. Um 16:32 erhielt er Urapidil 12,5 mg i.v. als Kurzinfusion. Um 16:40 kam der erste Troponinwert von ~100 pg/ml, hinweisend auf einen akuten Herzinfarkt. Ob dieser Wert zu diesem Zeitpunkt gesichtet wurde, kann ich nicht verifizieren. Der Patient selbst klagte weiterhin über Schmerzen und Unwohlsein, weshalb sich der diensthabende Kardiologe für einen Ultraschall entschied. Dort stellte er laut Dokumentation eine global erhaltene systolische LV-Funktion ohne Hypertrophie, eine schwere Hypokinesie apikal und anteroseptal sowie einen Durchmesser der Aorta Ascendens bis 50 mm fest. Es fiel die Entscheidung, den Patienten einer CT-Angiographie zuzuführen, um eine Aortendissektion auszuschließen. Dies bestätigte sich aber nicht und der Patient kam in die Notaufnahme zurück.
Um 18 Uhr lag der zweite Troponin-Wert vor: 162 pg/ml. Um 18:50, das heißt beinahe 6h nach Schmerzbeginn sowie > 2h nach Aufzeichnung des Erst-EKGs und Ermittlung des ersten Troponinwertes erfolgte erstmalig eine blutverdünnende Therapie mittels Acetylsalicylsäure 250 mg i.v. und Fondaparinux 2,5 mg subcutan. Laut Dokumentation des diensthabenden Arztes wurde nun ein NSTEMI diagnostiziert und der weitere Plan war die stationäre Aufnahme des Patienten. Ein Herzkatheter war somit nicht geplant.
Die Schmerzen des Patienten, die laut Dokumentation seit Ankunft in der Notfallambulanz unbehandelt geblieben sind, nahmen an Intensität zu, sodass schließlich ein zweites EKG angefertigt wurde. Auch das ist verwunderlich, da laut aktuellen Empfehlungen (Link) bei symptomatischen ACS-Patienten regelmäßig EKGs geschrieben werden müssen, um eine Befunddynamik zu erkennen, und Patienten mit refraktären Brustschmerzen zügig (< 2h) im Herzkatheter begutachtet gehören (Link). Um 19:28 erfolgte schließlich die Anfertigung folgenden EKGs:
Während I und aVL sowie die inferioren Ableitungen weitgehend unverändert imponieren, sind über der Vorderwand (V2-V5, v.a. V2-V4) eindeutige ST-Hebungen und eine Zunahme der Q-Zacken erkennbar. Nun wurde die Diagnose auf STEMI abgeändert und der Patient erhielt um 19:43 Ticagrelor 180 mg p.o. und unfraktioniertes Heparin (UFH) 5000 IE intravenös. Da das Krankenhaus an diesem Tag nicht Katheterbereitschaft hatte, wurde das zuständige Partnerspital informiert und ein Sekundärtransport organisiert. Um 20 Uhr erhielt der Patient noch Morphin 5 mg i.v. und wurde dann transferiert.
Im Herzkatheter zeigten sich eine chronisch verschlossene rechte Coronararterie (RCA) sowie ein akuter Verschluss der LAD (left anterior descending artery). Es erfolgte die Einlage eines Drug Eluting Stents (DES) in die LAD. Die RCA war retrograd perfundiert, aus der Dokumentation aber leider nicht ersichtlich, welche Gefäße hier hauptbeteiligt waren. Am Folgetag betrug das Troponin 1550 pg/ml. Ein Folge-EKG liegt mir leider nicht auf.
Was lernen wir daraus?
In diesem Paradefall sind einige Sachen nicht ideal verlaufen. Es geht hier keinesfalls um Schuldzuweisungen, sondern eine gemeinsame Aufarbeitung und was wir alle in Zukunft besser machen können. Die wesentlichen Kernprobleme in diesem Fallbeispiel waren:
- kein ACS-Verdacht durch den Notarzt
- fehlende Kenntnis über das OMI-NOMI-Konzept (siehe hier)
- keine Anfertigung regelmäßiger EKGs
- zu langsames Reagieren auf die Befunde
- fehlende analgetische Therapie
- initial falsche Diagnose sowie entsprechend falscher Therapieweg (insbesondere da die NSTEMI-ESC-Leitlinie bei refraktären Brustschmerzen zügig eine Herzkatheterdiagnostik fordert!)
- unnötige CT-Diagnostik trotz eindeutig pathologisch vorliegender Herzsonographie
Der Fokus darf nicht nur auf der ST-Strecke liegen, um zu entscheiden, ob ein Patient akut in den Herzkatheter kommt oder nicht. Es ist viel mehr als das. Es ist ein Zusammenspiel aus verschiedenen EKG-Mustern, Klinik und Troponinwerten sowie weiteren Untersuchungen (z.B. Sonographie) – die Grundlage des OMI-NOMI-Konzeptes. Ein Patient mit refraktären Brustschmerzen gehört in den Herzkatheter, egal was das EKG zeigt! Das große Glück dieses Patienten war, dass er nicht in einen Herzkreislaufstillstand gegangen ist.
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